8. März 2021: Aktivistin von JunepA
2011 war ich noch in der Schule. Wir waren am Wochenende auf Demos gegen Neckarwestheim und meine Mama hat mir „Atomkraft-Nein-Danke“-Aufkleber für mein Fahrrad gegeben. Als ich noch kleiner war, hatte ich in ihrem Bücherregal die Romane von Gudrun Pausewang gefunden und gelesen. Seitdem hatte ich sehr große Angst. Immer wieder habe ich sie gefragt, wie das war, als der Unfall in Tschernobyl passiert ist. Und wie wahrscheinlich es ist, dass ein Störfall in Neckarwestheim vorkommt. Ich habe mich mit meinen Sorgen immer sehr allein gefühlt. Atomkraftgegner:innen sind alle mindestens so alt wie unsere Eltern, Hippies, und überhaupt, das ist ja alles jetzt gar nicht mehr mit den 80ern vergleichbar, sagten die anderen. Aber dann kamen die Nachrichten aus Japan zu uns und auf Einmal wurde ganz viel darüber geredet. Dass der Ausstieg dann so schnell beschlossen wurde, kam mir schon damals ein bisschen absurd vor, auch wenn ich mich freute. Und ich habe mich damals vielleicht das erste Mal gefragt, wie es sein kann, dass erst so viel Leid passieren muss, bevor überhaupt darüber geredet wird, etwas zu verändern (und seitdem noch keinen Anlass gehabt, damit wieder aufzuhören).
5. März 2021: Jojo von JunepA
Im März 2011 war ich 21 Jahre alt und gerade mit dem ersten Semester meines Studiums fertig. Meine fast schon standardmäßige Work-and-Travel-Reise nach Australien nach dem Abitur (OK, “Standard” nur für diejenigen mit einem Übermaß an Privilegien…) lag also noch nicht allzu lange zurück. Eine Person, die ich bei meinen Reisen in Down Under kennengelernt hatte, stammte aus Japan, wir hatten uns gut verstanden und waren über Social Media in Kontakt geblieben. Sie war inzwischen auch wieder in Tokio – und ihr Geburtstag ist zufälligerweise der 11.3. …
Ich hatte ihr bereits am Vorabend gratuliert (weil dann dank Zeitverschiebung ihr Geburtstag in Japan schon begonnen hatte) und war nichtsahnend schlafen gegangen. Und ich werde das Gefühl eines Schlags direkt in die Magengrube nie vergessen, am nächsten Tag dann, als die Nachrichten auch auf unserer Seite des Erdballs ankamen und ich nach meiner Geburtstagsnachricht direkt eine weitere hinzufügen musste: “this was not the birthday I hoped you’d have. Please let me know you’re ok”.
Sie hatte die Katastrophe in Tokio, abgesehen von Stromausfällen und einigen weiteren Unannehmlichkeiten, gut überstanden. Und es war wundervoll zu sehen, wie sich ihre Timeline füllte mit Nachrichten aus Australien und dem Rest der Welt von all den Freund*innen, die sie auf ihrer Reise dazugewonnen hatte, dass sie doch bitte das Land verlassen solle, sie könne sofort bei der schreibenden Person vorübergehend unterkommen.
Am nächsten Tag stand ich mit meinem Vater in der Anti-Atomkraft-Menschenkette zwischen Stuttgart und Neckarwestheim. Um mich herum unterhielten sich zwar Menschen darüber, dass das Thema in den 80ern ja noch viel mehr Menschen auf die Straße gebracht hätte. Und doch war es ab dem Punkt, an dem die Meldung durchkam, dass die Kette nun geschlossen sei, eine der ersten Demos, auf denen ich begriff, was es bedeutet, Teil einer Bewegung zu sein, die tatsächlich etwas verändern kann. Denn dieser Moment wäre ohne das Desaster in Fukushima niemals so groß geworden – und seine Auswirkungen niemals so weitreichend.
Ich dachte in der Menschenkette auch an meine Freundin in Tokio. Und auch, wenn ich damals noch weitaus weniger reflektiert über Privilegien war und so sehr ich mich über die starke Solidarität für sie, die das Internet möglich machte, freute – mir war auch klar, dass das nicht die Lösung sein kann. In den Folgejahren hatten meine Eltern im Sommer immer wieder für einige Wochen Gastkinder aus Weißrussland zu Gast, die über einen Verein im wahrsten Sinne des Wortes Ferien von der Strahlung machten. Denn sie stammten aus dem Landstrich, über den der Wind nach dem GAU in Tschernobyl, nochmals 25 Jahre früher, die radioaktive Strahlung am direktesten verteilt hatte…
Egal also, ob in Japan, Weißrussland oder anderswo: Niemand soll mehr mit dem Risiko leben müssen, die Folgen einer solchen Katastrophe zu tragen. Umso unerträglicher empfinde ich die Stimmen, die Atomkraft als eine Lösung für die Klimakrise framen. Das ist sie aus zig Gründen nicht (mehr dazu hier). Und die Risiken sind, wie bei der Klimakrise auch, derart langfristig und unbeherrschbar, dass die einzige Lösung lauten kann: Nie wieder.
Doch dieser Kampf ist leider noch nicht vorbei…
2. März 2021: Clara von JunepA
Ich bin aufgewachsen in einem Haus, in dem Atomkraft und Atommüll die wichtigsten Themen waren, wenn es um Politik ging. An unseren Wänden hingen Plakate von Blockaden in Gorleben, in unserem Garten standen Nachbauten von Castorbehältern und in unserem Büro stapelten sich die Flyer und Zeitungsausschnitte zu dem Thema. In unseren Gesprächen am Abendbrotstisch ging es nicht selten um Analysen der atom- und bewegungspolitischen Situation. So habe ich zum Beispiel schon als Kind gelernt, was ein „window of opportunity“ ist – ein Gelegenheitsfenster, das man als Soziale Bewegung nutzen sollte, um ein Thema auf die politische Agenda zu bringen oder eine Forderung durchzusetzen. Zusätzlich dazu habe ich an diesem besagten Abendbrotstisch auch gelernt, wie oft – statistisch gesehen – ein Super-GAU passiert: Alle 25 Jahre (auch wenn das nur ein grober Wert ist, weil die Gesamtzahl der Ereignisse sehr gering ist).
Als ich das gehört habe, habe ich schnell nachgerechnet: Tschernobyl war 1986. 1986 + 25 = 2011. Es hat sich ein bisschen gruselig angefühlt, diese Zahl zu wissen, das Jahr, in dem statistisch gesehen das nächste große Atomunglück passieren muss. Aber ich war auch sehr gut darin, das zu verdrängen. Es ist ja irgendwie ein Dilemma: Als Atomkraftgegnerin muss man dauernd darauf hinweisen, dass etwas schreckliches passieren könnte und gleichzeitig muss man dieses Risiko ausblenden, um handlungsfähig zu bleiben.
Mit dem Ausblenden war es dann aber schnell vorbei, als dann tatsächlich im März 2011 – genau 25 Jahre nach Tschnernobyl – der Super-GAU in Fukushima stattgefunden hat. Ich war 15 Jahre alt, es war Frühling. In meiner Erinnerung sitze ich in unserem Wohnzimmer und schaue in den Fernseher. Ich habe Bilder gesehen, vom Erdbeben, vom Tsunami und von einem Atomkraftwerk. Bis zu dem Zeitpunkt dachte ich immer, dass Katastrophen von jetzt auf gleich, mit einem lauten Knall da sind. Dass sie ganz plötzlich real sind und dass man sofort versteht, was los ist. Aber am 11. und 12. März 2011 war das anders. Irgendwie ist die Katastrophe Stück für Stück in unser Wohnzimmer gekommen. Ganz langsam, fast ein wenig vorsichtig hat sie sich angenähert. Ich glaube, ich habe möglichst lange noch versucht, die einzelnen Katastrophenscherben wieder zusammenzusetzen, damit alles wieder normal wird. Aber irgendwann nach einigen Stunden, vielleicht sogar erst am nächsten Tag, war dann klar, was geschehen ist. Dieser größte anzunehmende Unfall, dieser absolut größte anzunehmende Mist, ist tatsächlich passiert.
Was dann geschah, war wahrscheinlich das beste Lehrbeispiel für ein „window of opportunity“ was es geben kann. Die Anti-Atom-Bewegung hat dieses Gelegenheitsfenster genutzt und es ist endlich endlich der Atomausstieg beschlossen worden. Auch, wenn es ziemlich erschütternd ist, dass es für diesen Beschluss erst eine Reaktorkatastrophe brauchte, zeigt es sehr gut, dass es sich lohnt zu kämpfen.
Und jetzt? Jetzt ist bald 2022, dieses magische Datum, an dem das letzte Atomkraftwerk in Deutschland abgeschaltet werden soll. Mein 15-jähriges Vergangenheits-Ich denkt sich: „Endlich, das wird aber auch Zeit. Dann wird endlich alles gut“. Mein 25-jähriges Gegenwarts-Ich muss mein Vergangenheits-Ich aber leider enttäuschen. Nichts ist gut.
Es wurde immer noch kein guter Umgang mit dem Atommüll gefunden, das Endlagersuchverfahren ist intransparent und ermöglicht keine echte Beteiligung. Atomkraft wird als Klimaretterin propagiert und es gibt Stimmen, die ernsthaft fordern, die Laufzeiten doch wieder zu verlängern. Und selbst wenn 2022 das letzte AKW in Deutschland vom Netz geht: Weltweit gibt es noch so viele Atomkraftwerke und auch in Deutschland gibt es noch Atomanlagen, die nicht vom Atomausstieg betroffen sind.
Es gilt also, wachsam zu bleiben. Es gibt noch eine Menge zu tun. Lasst uns Ausschau halten, nach den Gelegenheitsfenstern, Gelegenheitstüren, Gelegenheitsplätzen, Gelegenheitsgesprächen, Gelegenheitswegen hin zu einer gerechten Energieversorgung abseits von Kohle und Atom. Sie sind überall und warten nur auf uns.